Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit von Annette Kehnel, 2021, Blessing-Verlag
Nie hätte ich geglaubt, dass ein Fachbuch, zumal eines über das Mittelalter, mich so fesseln würde.
Annette Kehnel beschreibt vormoderne Phänomene als Alternativen zu unserem kapitalistischen System. Die Professorin für mittelalterliche Geschichte in Mannheim bereitet darin eine überzeugende Argumentation auf, die davon profitiert, dass das westliche historische Gedächtnis vergessen hat, wie die Menschen im Mittelalter wirklich gelebt haben – nämlich häufig schon selbstständig, generationengerecht und gleichberechtigt. Das verschiedenste Konzepte, wie der Minimalismus, Kooperationen und Mikrokreditbanken bereits in der Vormoderne Platz fanden, zeigt die Autorin an historischen Beispielen wie der Beginenhäusern, in denen alleinstehende Frauen gemeinsam lebten und erfolgreich wirtschafteten.
Wir lernen am Beispiel der Papierherstellung, wie wichtig Recycling im Mittelalter war, ohne dass wir heute nicht wüssten, was Mozart komponiert hat. Der Lumpensammler war eine wichtige Person. Wir erfahren, wie Mikrokredite in den Monti di Pieta der norditalienischen Städte das Marktgeschehen befeuerten und wie europaweit es üblich war, durch Viehgemeinschaftsverträge Kooperationen zwischen Stadt und Land herzustellen. Am Beispiel des Brückenbaues in Avignon und der Bruderschaft, die sie Jahrhunderte erhalten hat wird die Rolle der Stiftungen und Spender deutlich. „Ähnlich wie Mikrokredite zählen Spendenaktionen und Stiftungen zu den Basismodulen sozial nachhaltigen Wirtschaftens“ stellt die Autorin fest. Von besonderer Bedeutung sind die ausführlichen Darstellungen des Wirkens Olivis, der „kühnste, aufregendste und produktivste aller mittelalterlichen Denker“, der wie kaum ein anderer seiner Zeit die Kultur der offenen Diskussion förderte.
In einem Text des späten 12. Jahrhunderts, so endet das Buch, werden die Nachteile des Alters beschrieben. Der Autor nennt als Hauptmerkmale „Starrköpfigkeit und Griesgramm, Verdrossenheit und Schwerfälligkeit die Verhaftung im Alten, den steten Tadel an der Gegenwart und die Resignation“. Und er mahnt die Alten, sich nicht abzuwenden von der Jugend und die Jugend, sich nicht naseweis über das Greisenalter zu erheben. Er mahnt die Jungen weiter, stehts zu bedenken, dass das, was wir sind, war jener und was dieser jetzt ist, werden wir dereinst auch sein. Wer kennt das nicht??
Dieses Bewusstsein der Eingebundenheit in den Kreislauf der Generationen war im Mittelalter fest verankert in einer Gesellschaft, die sich als eine Gemeinschaft der Lebenden und der Toten verstand. Und sie wurde in der Sorge um das Seelenheil und im Gebet für die Toten kulturell von einer Generation an die Nächste weitergegeben. Durch den Ablass wurden Geldströme von einer Generation zur nächsten gelenkt, in der Finanzierung gemeinnütziger und karikativer Projekte auf lokaler Ebene. Zwar ist uns die Logik des mittelalterlichen Ablassens heute gänzlich fremd, und selbstverständlich ist es gut, dass es die Androhung des Fegefeuers heute nicht mehr gibt und wir uns von diesen Vorstellungen befreit haben. Doch scheint es, wir haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn hinter dem Konzept des Fegefeuers stand die Vorstellung, dass das Handeln des Einzelnen über die eigene Lebenszeit hinaus Folgen hat. Wenn ich weiß, dass meine Nachkommen für meine Seele im Fegefeuer beten können, dann habe ich sehr wahrscheinlich ein größeres Interesse daran, in ihrem Sinne zu handeln.
Heute spricht man von Generativität, handeln im Sinne der zukünftigen, die in einer Welt leben werden, in der es mich nicht mehr gibt. Statt „nach mir die Sintflut“ gilt künftig die Devise „nach mir die Zukunft“. Und es bleibt zu hoffen, dass wir auch ohne Fegefeuer die Kunst des generationenübergreifenden Denkens und Handelns wieder fester im kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft verankern. Die Fuggerei in Augsburg, ein soziales Wohnungsbauprojekt des frühen 16. Jahrhunderts, das bis heute Bestand hat und unverschuldet in Armut geratenen Menschen seit nunmehr 5 Jahrhunderten eine Chance zum Neuanfang bietet, macht Lust auf generatives handeln.
Frau Kehnel versucht mit dieser kurzen Geschichte der Nachhaltigkeit Anregungen für den Umbau der veralteten Kurzfrist- in eine Langfristökonomie. Die Zukunft ist nicht alternativlos. Wir haben die Wahl, so schreibt sie, wir können uns entscheiden. Petrus Johannes Olivi, der südfranzösische Wirtschaftstheoretiker des 13. Jahrhunderts, hat außer den bekannten Passagen über das Kapital auch ein Traktat über die menschliche Freiheit verfasst. Während seine Zeitgenossen in der Tradition des Aristoteles die Freiheit des Menschen als die aus dem Vernunft bestimmten Streben resultierende Entscheidung definierten, bohrte Olivi tiefer. Für ihn war Freiheit etwas, dass der Mensch ganz unmittelbar und tagtäglich bei jeder Entscheidung erfährt, stets hin und hergerissen zwischen 2 Optionen, zwischen Gewissensbissen und Entschuldigungen, zwischen Ermutigung und Ermüdung. Er verwendet den seit der antiken Philosophie wohlbekannten Begriff der Aufmerksamkeit, heute auch als Achtsamkeit wiederbelebt, die Fähigkeit zur Wahrnehmung der inneren Stimme, der Regungen und Gefühle. Es ist für ihn das erste und vornehmste Kennzeichen der Freiheit. Das Buch endet mit einem “Wir können auch anders, wir müssen es nur wollen“. Die Erfahrungen unserer Vorfahren, mit der sie dieses Buch geschrieben hat, machen Lust auf die Süße des Guten, darauf, Alternativen zumindest auszuprobieren.
Hinter diesem Buch und seiner Autorin steht ein Team von WissenschaftlerInnen und eine interdisziplinäre Lehrveranstaltung der „Scientists for Future Lecture Series“ in Mannheim. Klasse gemacht.
Peter Schrage-Aden, Niederhof, 20.7.2023