Ich sitze im Zug, pünktlich gestartet, gleite durch die norddeutsche Ebene, und lese ein Buch, das mir großen Mut macht.
Fragt man heute Menschen nach der Zukunft, sind Prognosen eher düster. Das macht auf die Dauer krank. Was wir brauchen, sind Begeisterung und Tatkraft für das Neue. Wir müssen Lust bekommen auf die Zukunft, die wir mitgestalten sollen. Dafür brauchen wir ein Bild dieser Zukunft. So heißt es im Vorwort dieses wunderbar gelungenen Buches über eine Vision 2045. Vier Autorinnen und Autoren, die schon viele Bücher über Ökologie, Nachhaltigkeit und Zukunftsvisionen geschrieben haben, haben sich etwas vorgenommen, dass ich nur als sehr gelungen beschreiben kann. Die Vision, die die Autoren entwickeln, orientiert sich an den Zielvorgaben, die die Klima – und Umweltforschung zur Bewältigung der Ökokrise entwickelt hat. Der UN-Klimarat, das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderung, das Stockholm Resilienz Center, und viele andere Institutionen haben Leitplanken für die Einhaltung der planetaren Grenzen entworfen. Sie alle sagen: es braucht einen tief greifenden Umbau unserer Gesellschaft. Aber wie kann der geschehen, und wie können wir dabei auch die Menschen mitnehmen.
Die Autoren schicken eine Frau, die von 2023-2045 in Südamerika als Journalistin gelebt hatte, auf eine Reise durch die deutschsprachigen Lande. Und diese „Rückkehrerin“ beschreibt die Veränderungen und bereist dabei 17 Städte. Visualisiert ist dieses durch großformatige A3-Bilder der Städte, einmal 2022 und einmal 2045. Die Veränderungen, die in diese Bilder hinein projeziert wurden, sind fantastisch begeisternd, aber nicht völlig utopisch. Es fliegen keine Untertassen durch die Luft oder andere Spielereien der Zukunftsvisionen, nein, sie haben die Städte so umgebaut, wie es mit den heutigen Techniken und Wissen schon möglich ist. Sie haben einfach all das, was in Programmen und Plänen aufgenommen ist, visualisiert. Ein sehr schönes Beispiel gleich zu Anfang ist Wiesenburg vor den Toren Berlins. Diese Gemeinde, die unbedingt eine Reise wert ist, 1 Stunde mit dem Zug von Berlin, wurde schon 2012 mit einem europäischen Dorferneuerungspreis ausgezeichnet. Der Umbau, der visualisiert wird, ist gerade in vollem Gange. Die Autoren streifen an Beispielen alle Bereiche, die zusammenwirken müssen, um einen Umbau gestalten zu können. Sie beschreiben technische Veränderungen, sie beschreiben auch neue Zuständigkeiten und Berufe, die erforderlich sind, um die große Transformation zu ermöglichen. Es gelingt gerade mit diesen Fotomontagen, im Kopf des Betrachters Bilder zu projizieren, wie eine Stadt aussehen könnte.
Ich sehe, während ich das Buch lese, die Städte, durch die mein Zug schwebt, in meiner Imagination plötzlich anders, grüner, lebensfroher, mit breiten Fahrradstreifen, mit Flüssen, in denen Menschen baden, aber vor allen Dingen runder, natürlicher, weniger grau.
Die AutorInnen gehen so weit, dass sie auch ein neues Ministerium erfinden. Ein Interview mit der Ministerin für integrale Gesellschaftsentwicklung in ihrem Büro am Alexanderplatz gibt eine Idee, was man benötigt, um Transformationsprozesse zu koordinieren und die gesellschaftliche Polarisierung abzubauen.
Aber sie sind keine Träumer. Sie bauen in ihre Zukunftsvisionen sehr wohl Krisen ein, wie die schwere Finanzkrise 2029, aus der dann etwas Neues entstand.
Zum Schluss siniert die Journalistin: „Zwei Monate, 16 Städte und über 4000 km liegen hinter mir. Mit einem Blick über den Earth-Dom in Berlin denke ich zurück an die vielen Gespräche, die mir gezeigt haben, wie der grundlegende ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft in weitem Umfang gelungen ist. Ich bin beeindruckt von der kollektiven Umsetzungskraft, die die Veränderungen der letzten Jahrzehnte ermöglichte. Unzähligen Menschen gelang es zusammen, destruktive Strukturen durch innovative, lebensfreundliche Alternativen zu ersetzen. Ich verspüre fast so etwas wie Ehrfurcht, was alles erreicht wurde. Das Land, dem ich vor gut 20 Jahren den Rücken kehrte, war ein anderes: viel pessimistischer, hoffnungsloser. Ich frage mich, ob es auch für mich Zeit wird, zurückzukehren und hier wieder Wurzeln zu schlagen“.
Man hat den Eindruck, dass sich die AutorInnen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der pessimistischen Stimmungslagen herausgezogen haben. Sie schreiben, dass für sie selber der Schreibprozess ein Transformationsprozess war, auf dem sie frische Neugier und Demut für die regenerative Kraft des Lebens entwickelt haben. „Wir realisierten, dass auch wir Geduld und Beharrlichkeit, Mitgefühl und gute Kommunikation, Mut und Humor brauchen“.
Das Buch ist ein Mutmacher und ein Mitmachkatalysator. Am Ende steht ein Fragebogen, überschrieben, „Jetzt sind Sie dran, entwickeln sie ihre eigene Vision“.
Mir hat das Buch Mut gemacht, stärker in meiner eigenen Umgebung darauf zu drängen, dass wir vom Reden und Pläne schmieden zu konkreter Umgestaltung kommen. Ich wünsche Ihnen ein genauso erfreuliches Lesevergnügen.
Für die beteiligten Städte, die in diesem Buch vorgestellt werden, ist es eine schöne Werbung und gleichzeitig Verpflichtung. 2045, an meinem 95sten Geburtstag, werde ich die Autoren zur Evaluierung ihrer Ideen einladen. Mehr über die Autoren finden Sie hier.
Ihr
Peter Schrage-Aden